Mit Attacken auf Bürgergeldempfänger als vermeintliche Arbeitsverweigerer versuchen sich Politiker wie Christian Lindner zu profilieren. Aber die Rechnung geht nicht auf.

Im Juni vergangenen Jahres waren 24.684 Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger von einer Kürzung ihrer Leistungen betroffen. Sie haben vielleicht einen Gesprächstermin bei der Arbeitsagentur versäumt oder ein Formblatt nicht rechtzeitig eingereicht. Oder alle Jobangebote abgelehnt und wollen einfach nicht arbeiten. Auch das kommt vor. Diese “Totalverweigerer” sind nun auf eine eigentümliche Weise ins Zentrum der politischen Debatte gerückt, und man weiß nicht so richtig, was sie da eigentlich sollen.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat am Montag den wütenden Bauern und Bäuerinnen vor dem Brandenburger Tor entgegengerufen, es ärgere ihn, dass “Menschen Geld bekommen fürs Nichtstun” und beim “fleißigen Mittelstand” gekürzt werde. Und Jens Spahn (CDU) will wegen ein paar Tausend Leuten (genaue Zahlen gibt es nicht) das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ändern, damit den Betroffenen alle Leistungen gestrichen werden können. Dasselbe Grundgesetz, das von der Führung der Union wie eine heilige Schrift behandelt wird, wenn es um eine Reform der Schuldenbremse geht, die inzwischen sogar konservative Experten fordern.

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Nun kann man über die Höhe des Bürgergelds streiten. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei der Grundsicherung im oberen Mittelfeld und in bestimmten Fallkonstellationen lohnt es sich nicht, von einer Teilzeitstelle auf eine Vollzeitstelle zu wechseln, weil mit steigendem Lohn Sozialleistungen wegfallen, sodass am Ende kaum mehr Netto vom Brutto übrig bleibt. Aber es gibt überhaupt keine Hinweise darauf, dass seit Einführung der Grundsicherung massenweise Menschen dem Arbeitsmarkt den Rücken kehren, um von Transferleistungen zu leben. Im Gegenteil: Die Beschäftigung hat ein Rekordniveau erreicht. Im Jahresdurchschnitt 2023 waren rund 45,9 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung. So viel zum Thema Freizeitpark. Die meisten Menschen wollen arbeiten und wenn nicht, dann ist in der eigenen Biografie oft so viel schiefgelaufen, dass schärfere Sanktionen allein nicht die Lösung sind. Schließlich können schon heute Leistungen gekürzt werden, das Bürgergeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen.

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Aber in dieser Debatte geht es vermutlich ohnehin nicht um Sachpolitik. Sondern darum, jemandem die Schuld für den miserablen Zustand geben zu können, in dem das Land nach 16 Jahren Union und zwei Jahren Ampel ist. Und anders als die Bauern besitzen die Armen keine Traktoren, mit denen sie die Hauptstadt lahmlegen könnten. So nährt der Druck auf die vermeintlichen Arbeitsverweigerer eine Entlastungsfantasie: Niemand muss verzichten, wenn nur beim Bürgergeld strenger zugepackt würde. Aber das ist sicher: Diese Rechnung geht nicht auf.

  • yetAnotherUser@feddit.de
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    9 months ago

    Nicht, wenn auch bei Nicht-Verweigerern das Bürgergeld gekürzt wird…

    Die CXU ist doch schon längst auf den “Das Bürgergeld ist viel zu hoch!!!1!”-Zug aufgesprungen.